Documenta! Das ist wahrlich ein ernsthaftes Geschäft, und während sich unser Auto die Kasseler Berge hinaufquälte, dachte ich darüber nach, was ich mir von der Documenta erwarte. Vor einiger Zeit nannte ich das Herstellen von Kunst eine Methode der Welterkenntnis, und ähnlich sehe ich die Rezeption von Kunst. Ich wollte also klüger die Berge wieder hinunter fahren, im besten Falle auch erhoben und beglückt. Ob das wohl gut ging?
Ja, meine Erwartungen und Bedürfnisse wurden mehr als erfüllt. Die Documenta zu schelten ist leicht, es gibt ja nun wirklich von allem etwas, und Vieles erschloss sich mir durchaus nicht. Aber einige Werke und Orte haben mich sehr begeistert bzw. beeindruckt: Das Video „The Raft“ von Bill Viola; die Ritualmasken von Beau Dick; der Sitzkissen-Panzer „Polemos“ von Andreas Angelidakis; natürlich der Parthenon der Bücher von Marta Minujin; das „Rosa Rauschen“ der Gruppe Postcommodity; „Indigo“ von Aboubakar Fofana; der Obelisk von Olo Oguibe und noch einiges andere.
Erhoben und beglückt bin ich auf jeden Fall, aber auch klüger? Habe ich von Kassel gelernt?
Die Documenta als Metapher
Das Thema der Documenta 14 ist, wenn ich es richtig verstanden habe, das Funktionieren unserer westlichen Welt auf der Grundlage der Maßlosigkeit in verschiedener Hinsicht und von Ausbeutung anderer Weltgegenden, um weiter dieser Maßlosigkeit frönen zu können. Das System heißt Kapitalismus, das Werkzeug Kolonialismus, in der modernen Welt repräsentiert durch den Weltmarkt. Dazu passt als Lektüre „Neben uns die Sintflut“ von Stephan Lessenich.
Das wusste ich im Grunde schon vorher, aber in Kassel war es zu spüren. Das tut weh, man fühlt sich angesprochen und ist auch gemeint. Vom Wahren, Schönen, Guten hörten wir hier nichts. Ändern können wir auch nichts, man kann nichts unterschreiben, kein Geld spenden, sonstwie sein Gewissen entlasten. Der moralische Druck bleibt. Darf Kunst das? Diese Frage kann ich nur für mich beantworten: In dieser Weise und diesem Zusammenhang darf sie das. Es waren großartige Ideen und Eindrücke zu sammeln, welche mir wahrscheinlich nicht so präsent wären, wenn mich das Thema nicht so berührt hätte. In gewisser Weise geht die Documenta vor wie ein Konzern: Sie designt und offeriert ein Produkt samt Showroom, verknappt das Kontingent und weckt im Konsumenten das Bedürfnis, teilzuhaben. Kassel als flagshipstore der Weltkunst. Doch Achtung, das ist ein Trojanisches Pferd: Die einzelnen Kunstwerke verbildlichen wiederum Weltanschauungen, sie sind sich nicht selbst genug, sind teilweise nicht zu kaufen und zu musealisieren, weil sie ihre Wirkung nur im Zusammenhang mit der Documenta entfalten. In diesem Kaufhaus gibt es nichts zu kaufen.
Mein Besuch dort wird damit zu einer Erfahrung: Der bildliche Eindruck des Friedrichsplatzes mit Parthenon markiert das Gefühl, mich ab sofort mit meinem Leben auseinandersetzen zu müssen unter dem Aspekt, dass es mir einen Documenta-Besuch ermöglicht und gleichzeitig zwingend auf der Benachteiligung anderer fußt, welche mir ebendiese Documenta vor Augen führt. Die Unschuld ist weg, ein für alle Mal. Dass ich dort drei interessante, anregende Tage verbracht habe, steht auf einem anderen Blatt.
Die Rolle der Kunst in der Gesellschaft
Wenn die Documenta für mich einen aufklärerischen Anspruch haben darf, entsteht die nächste Frage: Kann sie überhaupt aufklärerisch wirken? Hat sie und mit ihr die Kunst also eine Rolle in der Gesellschaft? Die Frage ist weiterzugeben an jegliche Institution, die Kunst zeigt, vor allem an die Museen, welche mit der Documenta die Eigenschaft teilen, dass man dort keine Kunst kaufen kann.
Ich kann das für mich selbst – und für einige Menschen, mit denen ich gerne Kunst betrachte und diskutiere – mit „Ja“ beantworten. Für die Gesellschaft Deutschlands bzw. für ihre verschiedenen Menschen hat Kunst sicher mehrere Funktionen. Eine davon ist, aufzuklären, evtl. sogar Handlungen anzustoßen. Eine weitere ist, zu erfreuen. Freizeitgestaltung hängt mit Kunst vielfältig zusammen. Hier wird klar, dass es zum Ausfüllen dieser verschiedenen Funktionen mehrerer Arten von Kunst bedarf und dass nicht jede Art von Kunst jeden Menschen anspricht. Das hängt davon ab, welchen Kunstbegriff er hat. Darüber hinaus kann Kunst auch als Dekoration, Therapiemedium, Spekulationsobjekt oder Werbemittel gesehen werden. Der Zusammenhang, in welchem uns Kunst begegnet, ist dafür entscheidend. Und jetzt kommt der Schritt zurück zu dem, was Kunst darf, präzisiert in:
Was darf meine Kunst?
In meinem offenen Atelier unter der Überschrift „Metamorphosen“ ging es diesmal um Verwandlungen bis hin zum Sterben und die Begegnung mit dem Fremden, auch in sich selbst. Zu sehen waren Objekte aus Leder und Papier, außerdem gab es wieder etwas zum Hören. Keines der Kunstwerke war zu kaufen. Ausgestellt wurde wie immer in meinen aus- und umgeräumten privaten Wohnräumen. Die drei Künstlerinnen (Birgit, Fabienne und ich) waren anwesend und beobachteten, dass die Besucher entweder eingehend schauten und fragten – oder ratlos die Runde bis zur Küche drehten und dann kauend über Urlaub und Kinder sprachen. Einige Wochen danach kam mit einer Freundin (so einer, die man ein Jahr lang nicht sieht und dann mit ihr sprechen kann, als hätte man gestern miteinander zu Abend gegessen) das Gespräch darauf, dass sie etwas ganz anderes erwartet hatte. Sie war lange da gewesen und hatte sich mit ihrer Freundin, aber auch mit mir intensiv über die Ausstellung unterhalten. Nun sprachen wir davon, ob es sinnvoll sei, zur Documenta zu fahren, und da schilderte sie mir unter vier Augen, wie es ihr mit unserer Ausstellung gegangen war. Sie fand die Objekte zum Teil gruselig, das Thema beunruhigend und wunderte sich, dass nichts zu kaufen war, hätte aber auch wohl nichts haben wollen. Es ist also alles „richtig“ bei ihr angekommen, trotzdem war es für sie irgendwie unpassend und bedurfte der Klärung. Ich selbst hätte nicht gemutmaßt, dass irgendjemand so denkt – und bin dankbar für Freundschaften, die so offene Gespräche ermöglichen.
Welche Kunst darf was?
Und da fiel mir ein, dass ich in Museen nicht gerne in Räume gehe, die verdunkelt sind oder aus denen Geräusche dringen. Ich will dann erst mal wissen, was es zu sehen gibt. Vor großen Vitrinen mit erkennbar natürlichem Inhalt suche ich erst mal ein beschreibendes Schild, bevor ich näher hinschaue. Denn hat man erst mal etwas wirklich Abstoßendes gesehen, evtl. verstärkt durch einen unheimlichen Höreindruck, ist das Bild im Kopf nie mehr zu löschen. Setze ich mich dem bewusst aus, kann ich jederzeit Abstand nehmen, dann ist es etwas Anderes. Dann kann es sein, dass ich auf merkwürdige Art dankbar für das Verstörtsein bin, welches mehr oder weniger subtil ausgelöst wurde, weil ich eine Erkenntnis fasse, einen Zusammenhang bemerke, mich selbst spüre.
Darf ich im privaten Rahmen – mein Haus ist ja nun kein ausschließlicher Kunst-Ort, keine Galerie, kein Museum – Fragen von allgemein menschlicher Tragweite aufwerfen? Den Besuchern mental auf den Pelz rücken und ihnen dazu Sekt und Kuchen servieren? Kann ich die Distanz erzeugen, welche im Museum entsteht, so dass meine Besucher eine geeignete Haltung einnehmen können? Wie kann ich signalisieren, dass das nicht der perfekte Sonntagsausflug sein könnte – sondern dass es hier um eine bestimmte Sorte von Kunst geht? Und wie definiere ich sie? Ernste Kunst – oje, schnell weg. Bedeutsame Kunst, hach.
Mit diesem Thema bin ich nicht fertig. Es war mir bisher nicht klar, dass ich die Ausrichtung meines Offenen Ateliers geändert hatte, es den Besuchern aber nicht mitgeteilt hatte. Und möglicherweise hatten die Macher der Documenta ein ähnliches Problem.