Es gibt einige Gründe, die dafür sprechen, Kunstwerke vor Ort zu besuchen. Der wichtigste Grund ist die Kontaktaufnahme mit einem Werk, also einem Gegenstand. Das geht doch gar nicht? Stimmt, wir nehmen in erster Linie Kontakt mit uns selbst auf, eventuell auch mit anderen Menschen, und das geschieht über das Medium des Werkes. Was sind günstige Umstände dafür?
Können wir die Kunst sehen?
Kunstwerken gegenüberzustehen ist an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Anlässen möglich: In Galerien, auf Messen, in Museen, im öffentlichen Raum, in temporär der Kunst gewidmeten privaten Räumen und in Räumen, die nicht primär für Kunstausstellungen gedacht sind wie Restaurants, Wartezimmer oder Treppenhäuser. Die Kunst ist eigentlich überall, die Frage ist nur: Können wir sie sehen? Denn wer gerade Zahnweh hat oder darauf wartet, die Verlängerung seines Personalausweises beantragen zu dürfen, ist nicht in der Stimmung, Kunst zu begegnen. Wer durch die Fußgängerzone läuft, um neue Strümpfe zu kaufen, ist es ebenfalls nicht. Wer auf der Messe zu „seiner“ Künstler:in geht, um mit ihr zu plauschen und einen (vielleicht schon vorab verabredeten) Kauf zu tätigen, ignoriert möglicherweise alle anderen Stände. Sie ahnen, worauf ich hinauswill: Die wichtigste Voraussetzung dafür, Kunst zu sehen, ist die innere Disposition.
Und schon bin ich bei einer Voraussetzung, die ausschließlich individuell zu definieren ist. Nur eine einzige allgemein gültige Grundlage scheint es für mich zu geben: Muße. Ich muss das Gefühl haben, dass ich der vordergründig „nutzlosen“ Kunstbetrachtung meine Zeit widmen darf. Wenn dieses Gefühl sich breit machte, wären die oben genannten Kunstorte voller Besucher:innen. Ein weites Feld, das ich hier nicht betreten möchte.
Kunst zugänglich machen
Für alle Menschen, die Anlässe zur Kunstbetrachtung wie oben genannt schaffen und damit Besucher:innen anlocken wollen, gibt es aber klar benennbare und herstellbare Umstände, die das Gefühl der Muße fördern und pflegen können. Sich zur Muße eingeladen zu fühlen heißt, es gibt keinen Druck. Niemand hetzt mich, fordert von mir das Einhalten von Konventionen (außerhalb der normalen Regeln des Zusammenlebens), ich finde leicht meinen Weg, kann Erholungspausen einlegen und kann Auskunft bekommen, wenn ich welche möchte.
Auf dem Weg zu den Werken bin ich zielstrebig in Richtung einer Epoche oder Stilrichtung unterwegs, suche eventuell sogar ein bestimmtes Werk – und kann es finden, indem ich die Mitarbeiter:innen der Aufsicht frage. Oder indem ich einen analogen oder digitalen Plan lese, mich an Schildern (mit Worten oder Bildern) oder einer App orientiere. Oder ich gehe „auf Sicht“ und lasse mich zu den Werken treiben, die mich optisch anziehen. Ersteres ist für die Menschen, die den Kunst-Ort ausstatten, zu steuern, zweiteres nicht.
Und dann, vor dem Werk: Ich kann es in Ruhe betrachten. Die angemessene Distanz wird mir unauffällig signalisiert, ich brauche keine Angst zu haben, etwas falsch zu machen. Ich kann das Werk aus verschiedenen Blickwinkeln in seiner Ganzheit und im Detail erfassen. Falls meine Wahrnehmungsfähigkeit in irgendeiner Weise beeinträchtigt ist, bekomme ich eine ergänzende Unterstützung. Diese Unterstützung steht allen Besucher:innen zur Verfügung, schaden kann es nämlich nicht.
Ich kann mir Informationen über das Werk und die Künstler:in geben lassen in der Form, wie ich sie benötige: Schriftlich, hörend, als Video, im Gespräch. Sie stammen nicht nur von Expert:innen für Provenienzforschung, Restaurierung, Kunstgeschichte und Vermittlung und sind in verständlicher Sprache abgefasst, sie stammen auch von anderen Besucher:innen. Alle diese Informationen sind für mich in beliebiger Reihenfolge zugänglich. Ich kann meine eigenen Eindrücke äußern, wenn ich möchte, und sie anderen Besucher:innen zur Verfügung stellen.
Welches Erlebnis habe ich dann möglicherweise?
Ich fühle mich beglückt und genieße die Eigenheiten der Gestaltung des Werkes, die Ansprache an meine Sinne und meinen Geist.
Ich finde mich in den Informationen rund um das Werk biografisch oder situativ wieder und erlebe mich damit als Person.
Ich fühle mich angeregt, möchte Zustimmung oder Widerspruch äußern, habe Assoziationen, möchte Verbindungen knüpfen.
Ich fühle mich als Element einer größeren Gesellschaft, die Geist und Seele hat.
Und nun stellen Sie sich bitte drei Fragen – ich habe eigene Antworten, frage aber ergebnisoffen:
Bei welcher Gelegenheit haben Sie zuletzt so ein Erlebnis gehabt, so gedacht und gefühlt?
Waren Ihr Geschlecht, Ihre Religion, die Tatsache, dass Sie eine Beeinträchtigung haben oder nicht, Ihre Muttersprache, Ihre Nationalität, Ihr Monatsgehalt, Ihr Bildungsabschluss zwingende Voraussetzung dafür, dieses Denken und Fühlen zu erfahren?
Welchen persönlichen Eigenschaften könnten es verhindern, dieses Erlebnis zu haben?
Bleibt für mich nur eine letzte Frage: Warum legen die Menschen, die Kunstorte gestalten, häufig so wenig Wert darauf, die Voraussetzungen für diese Erlebnisse zu schaffen?
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